EU-Türkei Deal: „Die Bearbeitung von Asylanträgen wird verschleppt“

Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament [Olaf Köster]

Nach über einem Jahr EU-Türkei-Abkommen ist ein europäisches Zuwanderungsgesetz immer noch in weiter Ferne. Auch der europäische Verteilungsmechanismus funktioniert – mangels fehlender Aufnahmebereitschaft vieler EU-Mitgliedstaaten – nach wie vor nicht.

EURACTIV sprach mit Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, wie sich der EU-Türkei-Deal auf die Zuwanderung ausgewirkt hat und welche humanitären Maßnahmen von der EU noch zu erwarten sind.

EURACTIV: Frau Lochbihler, Sie kommen gerade aus Griechenland zurück, wo Sie sich ein Bild über die Lage der Flüchtlinge machen wollten. Wie ist die aktuelle Situation?

Barbara Lochbihler: Ich war in Athen und in Lesbos, um mich zu erkundigen, wie nach dem EU-Türkei Deal die Hotspots, also die Erstaufnahmelager in Griechenland funktionieren. Hinzu kamen die alarmierenden Nachrichten aus dem Lager in Moria auf Lesbos. Dort steigen die Zugänge seit Oktober wieder und das Lager ist überbelegt. Moria ist eigentlich nur für die Registrierung da und für 2.000 Menschen ausgerichtet.  Als ich vorgestern das Lager besucht habe, waren über 6.000 Personen dort, 1.500 davon in Zelten, die nicht beheizbar sind.

Der Direktor des Lagers sagte mir, dass sich vor allem alleinreisende Männer bis zu 18 Monate  dort aufhalten. Ich habe auch mit einer Ärztin gesprochen, die das Lager regelmäßig besucht. Sie sagte, dass vierzig Prozent der Neuankommenden dieses Herbstes Kinder unter 6 Jahren sind. Für sie wird es extrem anstrengend, unter den in Moria herrschenden Bedingungen den kommenden Winter auszuhalten. Es mangelt außerdem an medizinischer Betreuung im Lager und das Krankenhaus auf der Insel ist viel zu klein für so viele zusätzliche Menschen. Die sanitären Anlagen sind völlig unzureichend und Frauen berichten, ihnen seien Windeln für die Nacht ausgegeben worden, weil sie nicht auf sicherem Wege eine Toilette erreichen können. Mit anderen Worten: Diese Mängel muss man beheben und man hätte nicht so lange warten sollen. Die bisher getroffenen Maßnahmen der griechischen Regierung reichen bei weitem nicht aus.

Haben Sie diese Missstände gegenüber der griechischen Regierung ansprechen können?

Ich hatte Gelegenheit, mit dem griechischen Minister für Migration, Giannis Mouzalas, darüber zu reden, wohin das Geld der EU fließt. Wir sprechen über 1,2 Milliarden Euro, die zum Teil eben auch nach Lesbos fließen. Dennoch kann die griechische Regierung bis zum heutigen Tag keinen fertigen Plan vorlegen, wie man vor Anbruch des Winters für alle Menschen eine feste Behausung zur Verfügung stellen kann.

Der Minister sagte dazu, dass sie mit dem EU-Geld zwar Häuser angemietet hätten, jedoch nicht genügend. Er wies darauf hin, dass das Geld teilweise durch nicht-staatliche Organisationen geflossen sei, die nicht genügend Wohnungen bereitgestellt hätten und jetzt sucht man eben händeringend nach Hotels oder Apartments auf Lesbos oder auf dem Festland, um über die Wintermonate zu kommen. .

Soll das bedeuten, dass die EU-Mittel bei NGOs versickert sind?

Das kann ich nicht sagen. Ich kann nur wiedergeben, was der griechische Minister mir gegenüber geäußert hat. Demnach arbeiten die NGOs nicht zu seiner Zufriedenheit. Gleichzeitig gibt es sehr viel Kritik an Missmanagement und Intransparenz, die das Ministerium zu verantworten habe. Ich denke, dass es vielleicht hilft, jetzt noch einmal seitens der EU Druck zu machen, damit die noch fehlenden 1.500 festen Unterkünfte so schnell wie möglich bereit stehen.

Es gibt  Beschwerden über eine bewusste Verschleppung der Antragsbearbeitung – nicht nur von den NGOs, sondern auch zunehmend von den Flüchtlingen selbst. Vor allem von jenen, die bereits seit Monaten eine Bewilligung des Bundesinnenministeriums haben, aber dennoch aus Griechenland nicht ausreisen dürfen. Ist das Erschweren des Familiennachzuges Ihrer Meinung nach administrative Überlastung oder politisch gewollt?

Es sind etwa 4.500 Personen, die aktuell nach dem Dublin-Verfahren einen Anspruch auf Familiennachzug zu ihren Eheleuten, Eltern oder Kindern nach Deutschland haben. Das ist keine Zahl, deren Aufnahme in Deutschland zu administrativer Überlastung führt. Dass die Überstellungszahlen schon wesentlich höher waren, als zur Zeit,  zeigt, dass auch die griechische Seite administrativ keine Probleme hat.

Daneben gibt es die Debatte um Familienzusammenführung. Das heißt, man holt die Kernfamilienmitglieder aus Syrien oder dem Libanon nach. In Deutschland haben wir ja die Debatte, die Familienzusammenführung auszusetzen bis März. Die CSU hat jetzt schon angekündigt, dass das verlängert werden soll. Ich finde das wirklich unmöglich. Erklärte Politik von allen deutschen und europäischen Parteien ist doch, dass wir das Sterben auf den gefährlichen Routen stoppen und das kriminelle Schleusen verhindern müssen. Das heißt, legale und sichere Zugangswege zu organisieren. Familienzusammenführung muss man fördern und die sollen einen legalen Weg gehen können. Das nach außen doch sehr populistisch vorgetragene „Deutschland geht unter, wenn noch mehr Schutzberechtigte hierher kommen“ ist nicht haltbar, wenn man im Kern diskutiert.

Aber warum dauern die Bearbeitungen der Anträge in Griechenland so lange?

Ich würde sogar sagen, dass die Bearbeitung verschleppt wird. Ich habe die Hungerstreikenden in Athen besucht und mit ihnen geredet. Ich hatte den Eindruck, dass sowohl die griechische, wie auch die deutsche Seite die Anträge nicht schnell genug bearbeiten, obwohl es für die Leute, die da sind, der einzige legale Weg nach Deutschland ist. Es zirkuliert ein Brief des griechischen Ministers an den deutschen Innenminister, in dem er zusichert, dem deutschen Ersuchen,  möglichst langsam zu arbeiten, nachzukommen. Demnach sollen pro Monat nur 70 Familienmitglider nach Deutschland weiterreisen können. Das deutsche Innenministerium hat das dementiert. Inzwischen gibt es aber sogar ein Verwaltungsgerichtsurteil, das die deutschen Behörden verpflichtet, die Überstellung in der vorgegebenen 6-Monatsfrist zu erledigen. Es wird derzeit ein bisschen schneller gearbeitet, pro Monat werden rund 300 Personen überstellt. Bevor der Verdacht aufkam und dieses Schreiben Mouzalas von einer griechischen Zeitung veröffentlicht wurde, waren es 700 im Monat.

Eigentlich sollten doch die europäischen Büros für Asylfragen (EASO) solches Vorgehen verhindern.

Mit dieser Geschichte hat EASO nichts zu tun. Aber es gibt sehr viel Kritik an der Befragungspraxis von EASO. Unter anderem geht es um die Erkennung besonderer Verletzlichkeit durch Folter, Kriegstraumatisierung, Krankheiten, die dazu führen würde, dass die Menschen aus dem EU-Türkei-Abkommen herausgenommen würden, die Inseln verlassen und auf dem Festland wesentlich besser untergebracht werden könnten.   

Das alles klingt wenig hoffnungsvoll.

Eine Menschenrechtsorganisation (ECCHR) hat sich an den EU-Ombudsmann gewandt. Sie haben sehr ernstzunehmende Beschwerden vorgetragen. Sie haben einen Antrag an die Ombudsperson gestellt zu überprüfen, ob das europäische Büro für Asylfragen in Moria seine  Arbeit fair und allen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügend erledigt. Im Juni diesen Jahres hat die EU-Ombudsperson die Beschwerde zugelassen und prüft nun, ob es ein administratives Fehlverhalten gibt. Das ist im EU-Kontext schon ein bemerkenswerter Vorgang.

Wenn sich die EU-Staaten gegenseitig Vorwürfe machen, wird sich die Situation für die Flüchtlinge allerdings auch nicht ändern. Liegt das Übel nicht eigentlich im EU-Türkei-Abkommen selbst?

Ich habe auch im Gespräch mit dem griechischen Migrationsminister den EU-Türkei Deal kritisiert, weil er menschen- und völkerrechtlich einfach nicht haltbar ist. Er hat ihn jedoch verteidigt, aus Sorge, dass Griechenland überlastet wird und letztlich nicht im Schengenraum bleiben kann, wenn die anderen Mitgliedstaaten die Verteilung und Weiterreise der Flüchtlinge weiter um jeden Preis verhindern wollen.

Und angesichts der humanitären Katastrophen in den Flüchtlings- und Auffanglagern ist auch kein Umdenken seitens der EU-Staaten in Sicht?

Es ist kein Umdenken auf EU-Ebene in Sicht, eine andere Flüchtlingspolitik zu verfolgen. Stattdessen wird nach wie vor auf das Outsourcen der eigenen Asylverantwortung in Drittstaaten gesetzt.

Nehmen wir etwa den konfliktträchtigen Libanon: Jeder vierte Libanese ist ein Flüchtling, der dort in einem Lager lebt. Glaubt Europa wirklich, dass – sollte die Lage im Libanon eskalieren – wir uns alle Menschen, die fliehen werden, vom Leib halten können? Ich glaube das nicht. Darum ist es für eine vernünftige Politik absolut notwendig, die Aufnahme zu regeln. Das bedeutet legale Wege zu schaffen, die Menschen direkt von Flüchtlingslagern aus den Nachbarstaaten aufzunehmen, um auch Griechenland zu entlasten. Die Flüchtlinge müssen besser verteilt werden und die Aufnahmekapazität in den Mitgliedsstaaten erhalten bleiben. Auch, wenn es derzeit mit den vielen rechten Regierungen schwer ist. Zudem sollten keine Menschen nach den Dublin-Verfahren aus anderen EU-Staaten wieder nach Griechenland zurückgeschoben werden.

Sie sprachen von “mehr Druck ausüben”. Angesichts der Tatsache, dass alle Parlamentsbeschlüsse seitens der Rates ohne weitere Folgen ignoriert werden können, wie optimistisch sind Sie, dass sich an der europäischen Flüchtlingspolitik und der damit verbunden humanitären Katastrophe in naher Zukunft etwas ändern wird?

Die Krise haben wir im Europäischen Rat. Das was auch teilweise von der Kommission vorgeschlagen wird und vom Parlament auch unterstützt würde, wird nicht umgesetzt vom Rat. Wenn wir das nicht ändern können, ist es sehr, sehr schwierig in der europäischen Tradition humanitärer Flüchtlingspolitik zu bleiben und auch sinnvolle Arbeitsmigration zu organisieren. Dann wird es so weiter gehen: Man versucht Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Europa zu kommen.  Die Vorschläge, die Jean-Claude  Juncker gemacht hat -mehr Resettlement mit mehr Verteilung – muss man einfordern. Ich sehe keinen anderen Weg.

Am Mittwoch, den 15. November, wird sich das Europäische Parlament in Straßburg mit der Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln befassen.  Welche Ergebnisse sind von der Beratung zu erwarten?

Ich hoffe, dass die Kommission am Mittwoch gut vorträgt. Man braucht eine detaillierten Übersicht, wofür die 1,2 Milliarden Euro ausgegeben wurden, die nach Griechenland geflossen sind.  Das ist eine wichtige Information, auch für die Nichtregierungsorganisationen, die gerne wissen wollen, wo man noch mehr braucht oder wo es gehapert hat. Wir werden ja „nur“ im Plenum diskutieren, was zwar Öffentlichkeit schafft, aber es wird leider keine Resolution geben. Es gibt, glaube ich, parteipolitische Gruppierungen im Parlament, die nicht wollten, dass die Tsipras-Regierung so deutlich kritisiert wird. Ich hätte mir schon eine Resolution gewünscht, weil dann kann man immer auch konkrete Forderungen stellen.

Es wird also lediglich ein “Gedankenaustausch” ohne weitere Konsequenzen?

Es wird bei einem Gedankenaustausch bleiben, aber vielleicht auch mit einem starken Appellcharakter. Zumindest sollten wir erreichen, dass die humanitären Verhältnisse in dem Lager Moria vor dem Winter verbessert werden.

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